Sonntag, 28. Juni 2009

Soll das Theater die heutige Welt darstellen?

Man gewinnt heute leicht den Eindruck, Theater sei lediglich eine Form des mehr oder minder geistreichen Zeitvertreibs für die sich amüsierende Klasse. Was seinerzeit   insbesondere mit Brecht dieses lebendige Gemeinschaftserlebnis, welches durch keine andere Kunst zu ersetzen ist, beflügelte, war die politisch-moralische Übereinstimmung von Publikum und Theater, wie wir sie mit der sozialistisch-realistischen Gegenwartskunst der DDR kennengelernt haben. Dort entfaltete das Theater seine höchste geistige Produktivität und erwies sich als unersetzbare Anregung für den gesellschaftlichen Fortschritt. Gerade dem widmete sich wenn auch zuweilen in recht verklausulierter Form der Dramatiker Peter Hacks. "Inhalte", schrieb er, "sind wichtig in dem Grad, in dem sie wichtige Haltungen ermöglichen". Und Haltungen sind gerade das, worüber das Theater heute am wenigsten räsoniert. Theater bleibt blaß und ist allenfalls vergnüglich, bestenfalls vielleicht satirisch wobei letzteres wohl eher auf das Kabarett zutrifft...

Wenn es wahr ist, daß die Kunst eine Form des Verkehrs von Menschen untereinander ist, so will das Drama nicht auf Informationen über die Welt, sondern auf Informationen über die HALTUNG des Autors zur Welt hinaus. Haltungen kann man nicht erläutern; Haltungen nimmt man ein.

 

Einem peinlichen Mißverständnis unterliegen Schriftsteller, die hoffen, irgendwen interessierten ihre vorgetragenen Ansichten. Nichts interessiert außer der Art, in welcher der Autor die Wirklichkeit praktisch bewältigt. Des Autors Praxis ist die Darstellung der Wirklichkeit. Somit folgt aus der Voraussetzung, daß Darstellung der Welt nicht Zweck des Dramas sei, der Schluß, daß das Drama notwendig die Welt darstellen müsse.

Die Überlegung scheint auf den Standpunkt, den sie verlassen will, zurückgekehrt; in Wahrheit ist sie schon über ihn hinaus. Denn die Unterscheidung, daß Darstellung der Welt nicht Zweck des Dramas, sondern ein unentbehrliches Mittel ist, ist keine Spitzfindigkeit. Sie führt zu Konsequenzen von enormer praktischer Bedeutung. Nämlich so sicher der Dramatiker verpflichtet ist, die Welt darzustellen, so sicher ist, daß nichts ihn verpflichtet, die gesamte Welt darzustellen.

Inhalte sind wichtig in dem Grad, in dem sie wichtige Haltungen ermöglichen. Ihre Auswahl erfolgt nach künstlerischen Gesichtspunkten, nicht nach anderen.
Was für ein Leben eine Hauptsache ist, kann für die Kunst gar keine Sache sein. Welcher Grund wäre seit siebzig Jahren erkennenswerter als die Struktur einer kapitalistischen Krise? Und doch ist dieselbe für die Kunst müßig und wenig ergiebig...

Peter Hacks, Die Maßgaben der Kunst, Berlin 1978, S. 95.

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