Freitag, 2. Juli 2010

Marcel M a r c e a u - Die Kunst der Stille

Etwa 1970 interviewte Ingeborg Stiehler den berühmten französischen Pantomime M.M.
Dieses Interview erschien im URANIA-Universum der DDR. Es ist für einen heutigen Schauspieler, Pantomimen oder Clown nicht nur wichtig zu wissen, wer dieser einmalige Künstler ist - man lernt im nachfolgenden Textauszug auch seine Auffassungen kennen, die ihn so einziartig machten. Und das ist gerade für die Clownerie von entscheidendem Vorteil:

Marcel Marceau wurde 1923 als Sohn eines Fleischers in Strassbourg geboren. Er verlebte seine Kindheit in Lille und in der Heimatstadt, wo er bis 1939 das Gymnasium besuchte. Wie der Vater, der von der Gestapo verhaftet und erschossen wurde, kämpften auch die Söhne Alain und Marcel in der Widerstandsbewegung gegen den Faschismus. Marcel Marceau arbei­tete in der Resistance als Lehrer für Kinder, deren Eltern von den Faschisten ermordet worden wa­ren. Gegen Kriegsende begann er das Schau­spielstudium, wurde jedoch noch als Soldat ein­gezogen, nahm an der Ardennen-Schlacht teil und war als Besatzungssoldat bis 1946 in West­deutschland eingesetzt. Während seiner Arbeit als Lehrer und in der Be­satzungszeit regte er seine Umgebung — in der Schule wie unter den Soldaten — zum Theater­spielen an. Einer kurzen Ausbildung in der Kunstgewerbeschule verdankt er die Förderung seines ausgeprägten Mal- und Zeichentalents. 1946 begann in Paris dann jener künstlerische Weg, der schließlich zur eigenen „Sprache" der Pantomime führte, in der Marcel Marceau Welt­ruf errang.

Frage: Wie hat sich die Pantomime als Kunst­form entwickelt, und worin sehen Sie ihre typi­schen Merkmale?

Antwort: Die stumme Sprache der Gestik und Mimik, die „Kunst der Stille", ist jahrtausende­alt — eine der ältesten Kunstformen überhaupt. Ihr Ursprung geht auf jene Zeiten zurück, in de­nen die Menschen begannen, sich mimisch und auch im Tanz auszudrücken, Gefühle und Erleb­nisse widerzuspiegeln. Schon in den Theatern der Griechen und der Römer — 300 und 400 Jahre vor der Zeitrechnung — wurde sie viel­seitig geübt. Berühmte Schriftsteller der Antike schrieben nur für Pantomimen. Damals gab es zum Beispiel in Rom bis zu 6000 Pantomimen. Reiche Patrizier hielten sich „Hauspantomi­men" — Mimi domestici, die die Gäste unter­hielten, und es gab Mimi urbani, die von der Stadt angestellt waren. Sie spielten kritisch-satirische Gestaltungen. Aus der Historie der Pantomime kann man nur Stationen andeuten. So gehört auch die Kunst der Mimen in den sakralen Spielen des Mittel­alters dazu. Die italienische Commedia dell'arte hat mit ihren Formen von Tanz, Akrobatik, Musik und Mimik bei der heutigen Kunst ebenfalls Pate gestanden. (...)

Die Pantomime gehört einerseits zum dramati­schen Theater, andererseits besitzt sie tänze­risch-rhythmische, ja artistische Elemente. Sie ist eine Kunst der Haltung, der Identifizierung des Menschen mit den Elementen der Natur, mit Gefühlen, Symbolen, mit Charakteren und Realitäten. In ihrer Form der Stilisierung über­höht sie menschliche Verhaltensweisen und Handlungen. Sie ist immer stark geistig durch­drungen von Lebensphilosophie, Gesellschafts­kritik und humanistischen Gedanken, will zu Auseinandersetzungen beitragen und auch aggressiv wirken, zum Beispiel soziale Fragen auf­decken oder angreifen. Sie will wie das Wort­theater — wie im Grunde jede echte Kunst — den Alltag der Menschen durchleuchten, Zeit­probleme widerspiegeln und den Zuschauer zu höheren Erkenntnissen führen. (...)

Frage: Wie war Ihr eigener Weg zu dieser selte­nen Kunst?

Antwort: Für meinen eigenen Weg studierte ich alles, was nur erreichbar war aus dieser bereits angedeuteten Tradition. So befaßte ich mich auch mit Formen des japanischen und des chi­nesischen Theaters, mit Brechts realistischer Kunst und vielem anderen. Aber ich greife vor. Im Jahre 1944 begann ich in Paris mit dem Schauspielstudium bei Dullin, dem Direktor des „Theatre Sarah Bernhardt". Dullin gilt als Max Reinhardt der französischen Bühne. Vorher war ich Lehrer in einem Heim elternloser Kinder, denen der Faschismus Mutter und Vater genommen hatte. Ich wurde dort nicht nur Zeichen-, sondern bald auch Schauspiel­lehrer, angeregt durch die kindliche Darstel­lungsfreude und Phantasie, die meinem von Kind an vorhandenen Nachahmungs- und Gestal­tungstrieb entsprach. Die Arbeit mit den Kindern war eine reiche, beglückende Zeit. Und vom „Schauspiellehrer" von einst bis zum Studieren­den und Darstellenden war dann der Sprung nicht allzu groß. In der Ausbildung bei Dullin begegnete ich Etienne Decroux, der uns in pantomimischen Übungen unterrichtete. Decroux schuf bereits seit 1926 ein eigenes Bewegungsvokabular, eine „Grammatik", beeinflußt von der Antike, von Skulpturen — auch von Rodin —, ebenso vom Expressionismus. (...) Decroux' Sprache des Körpers war unmißverständ­lich, seine Technik phantastisch, aber die Arbeit mit ihm äußerst hart. Doch sie nützte und half mir, einen eigenen Stil zu finden.

Die letzte Phase des Krieges mit den Kämpfen in den Ardennen als aktiver Soldat hatte diese Entwicklung unterbrochen. Ich war bis 1946 Besatzungssoldat in Westdeutschland und spiel­te natürlich für die Soldaten Theater. Sofort nach meiner Rückkehr nach Paris bekam ich erste, stumme Rollen bei Charles Dullin. Die erste Aufgabe in meiner heutigen Kunstsprache war eigentlich der „böse Harlekin" am Theater „Petit Marigny" bei Jean-Louis Barrault — auch ein Schüler von Decroux, der sich dem Theater zuwandte, aber viel mit Pantomime darin arbei­tete. Übrigens trug die Theaterpraxis wesentlich dazu bei, daß ich die Gesetzmäßigkeiten des Raumes, der Lichtregie, der Dekorationen und Kostüme, der Technik, der Farbe und der Musik erkannte, die bei der Pantomime zwar nicht vorrangig sind, aber dennoch eine Rolle spielen.

Frage: Welche technischen Besonderheiten können Sie uns aus der Pantomimearbeit schil­dern? Wie bereicherten Sie die vorhandenen Erfahrungen über die bisherigen Traditionen hinaus?

Antwort: Ich will versuchen, hier in „Zeitraffung“ – also typisch für die Pantomime – das Wesentlich zu erklären. Die Technik geht stark auf die Exercise-Grundlagen des klassischen Ballettes zurück. (...) Die Pantomime ist jedoch nicht wie der Tanz eine schwebende Kunst, in der man sich vom Boden löst, sondern man bleibt dem Boden verhaftet. Die Bewegun­gen werden durch langsamere Rhythmen be­stimmt, als dies im Tanz üblich ist, sie sind in­haltlich geraffter, plastischer. Die Überhöhung und Stilisierung realistischer und poetisch-lyri­scher Reaktionen verlangt einen bis ins letzte durchgebildeten Muskelapparat, um die feinsten Reflexionen ausdeuten zu können. Der Le­ser kann sich gewiß die Bedeutung eines ein­seitig verzogenen Mundwinkels, des winzigen Zuckens einer Augenbraue, des Kopfes, der Schultern, der Arme, Bewegungen einzelner Finger — in Ausdruck umgesetzt — vorstellen, ja erklären.

Ein Beispiel: Wir unterscheiden bei Handbewe­gungen eine „geometrische Hand", die eckig streng einen Raum nachzeichnet, ihn „sichtbar macht", oder eine romantisch-lyrische Hand — weich, zärtlich, gefühlvoll —, die menschliche Wärme, Zuneigung, Liebe charakterisiert. Es gibt die „Identifizierungshand", die Begriffe aus­drückt wie Kraft (geballt), Schmerz (verkrampft), Kampf usw. Es gibt die „orientalische Hand" aus der Tradition Indiens, Japans, Koreas usw. Hand- und Fingerstellungen symbolisieren hier Tiere und Begriffe. So ließen sich viele Körper­reflexionen schildern, in denen sich die Bewe­gung, die Gestik und Mimik der Ausdrucksab­sicht unterordnen, wo der Körper zum Instru­ment des Geistes wird. Und das verlangt vor allem vollendete Harmonie in jeder Bewegungs­phase. Ich werde zum Beispiel einer aktiv arbei­tenden Hand in einer Pantomime jeweils eine Gegenreaktion der anderen Hand entgegenset­zen, um eine ausgleichende Harmonie des Gan­zen zu erreichen.

Da Sie nach Neuem fragten... Ich schuf zum Beispiel die „Luftstütze", das Stützen auf un­sichtbare Gegenstände, wie dies auf dem „Jahr­markt" geschieht — hier das Aufstützen auf ein nicht existentes Geländer, oder bei der Panto­mime „Im Park" — auf die Lehne der nicht vor­handenen Bank. — Ebenso wird der Stock „sichtbar", wenn ich den alten Mann gestalte, der sich darauf stützt, oder der Tisch, wenn ich bei der „Abendgesellschaft" esse. In der Stilübung „Der Käfig" konkretisiere ich die Wände — hier übrigens gedacht als Symbol für die Begrenzungen im Leben des Menschen, nicht als Negation. Neu ist auch in meiner Arbeit die Einbeziehung eines „Gegenspielers", wenn ich zum Beispiel ein Liebespaar in der Umar­mung nur durch die um den Hals gelegten Hände darstelle oder bei der Pantomime „Zirkus". Der Zuschauer „sieht" die Tiere durch meine Gegen­reaktion, wie überhaupt bei allen Mensch-Tier-Begegnungen, auch bei dem „Schmetterlings­fänger". Neuartig war ebenfalls die Form von „David und Goliath". Hier wird als Requisit eine Wand aufgestellt, hinter der sich — in der Vor­stellungswelt des Zuschauers — die Wandlung von einer Gestalt in die andere vollzieht. Durch das Wechselspiel der beiden rechts und links heraustretenden, handelnden und reagierenden „Partner" wird die Begegnung lebendig und deutlich.

Frage: — und das mit unnachahmlicher Meisterschaft. Wir werden den naiven, hintergründig schlauen David nicht vergessen, der, getrieben von dem kraftstrotzenden Goliath, den Gewalt­menschen schließlich tötet. Man bewundert die blitzschnelle geistige und körperliche Reaktion und Wandlung, die hohe geistige Forderungen stellt. Diese Pantomime besitzt tiefe Philosophie und gesellschaftliche Aussage.

Antwort: Das gehört zum inneren Kern meiner Arbeit. Sie werden es auch bei meinem „zweiten Ich", der bekannten Bip-Figur, erkennen. Die Figur entstand schon 1947, und ich schuf bisher 40 Pantomimen mit ihr. Sie wurde übrigens in allen Erdteilen, in über 60 Ländern der Welt, verstanden. Bip ist eine Symbolfigur mit zer­beultem Hut, schwankender roter Nelke daran, der kleine Mann aus dem Volke, der sich mit den Schwächen des Menschlichen, mit Freuden und Nöten der Umwelt auseinandersetzt. Er ist ein Philosoph, ein lächelnder Poet, der nie resigniert. Er fordert im Dialog mit seinem Publikum Ge­sellschaftskritik heraus. Das ist beabsichtigt, auch wenn er bei der „Abendgesellschaft" für manche unverbindlich heiter wirkt. Bip schildert durch Reaktionen auf die Umwelt, wie veräußer­licht und oberflächlich diese Gesellschaft ist. (...) Mit Bip schuf ich eine Gestalt, die Liebe zum einfachen Menschen besitzt und den Zuschauer vom Glauben an das Gute überzeugen soll, den ich ja selbst besitze!

Frage: Sie erreichen mit manchen Pantomimen auch Schockwirkungen, eindeutig kämpferisch ­humanistische Aussagen.

Antwort: Natürlich muß man auch diese „Spra­che" haben. Zum Beispiel zeige ich in der 16-Minuten-Pantomime „Gegensätze" 70 mensch­liche Verhaltensweisen, kontrastierende Wand­lungen — Schocks! —, den Rummelplatz neben dem Tod des Soldaten, Glück neben Schmerz, den Bettler und den Snob. Das soll aufrütteln, wie auch der „General beim Schachspiel" als Synonym militaristischer Macht. Auch die sehr problematische Pantomime „Bip im Kampf ge­gen die entfesselte Technik" ist ein Aufruf, den Fortschritt der Technik durch die Kraft des Men­schen zum Guten in der Welt zu nutzen. Gewiß kann man über das Symbolhafte darin, über Form und Inhalt stark diskutieren, aber das brau­chen wir — wie in jeder schöpferischen Arbeit. (...) Übrigens verwende ich nach eigener Wahl sehr viele klassische Musiken von Bach, Mozart und Händel. Ich liebe sie wegen ihrer ordnenden, so lebendigen Kraft. Musik soll in der Pantomime Situationen nur verstärken. Sie kann den Hand­lungsrhythmus unterstreichen, den Charakter. Selbst die „Stille" in der Musik— Pausen nach Akkorden, nach Melodien — kann dazu die­nen. (...)

(...) Ein Ensemble bietet natürlich vielsei­tige Möglichkeiten. Ich konnte das jahrelang erproben, bis ich mangels staatlicher Mittel das Ensemble auflösen mußte. Aber ich hoffe, wie­der ein Ensemble gründen zu können. Wir spiel­ten damals „Mimodramen", also Szenen und Handlungen mit mehreren Personen. Diese Form des stummen „Theaters" ist übrigens schon im 19. Jahrhundert erprobt worden. Wir führten unter anderem literarische Stoffe auf, Gogols „Mantel", das Märchen „Der Rattenfänger von Hameln", „Die Perücken" nach dem „Talisman" von Nestroy und andere. Bei der Ensembleform lassen sich ja sichtbare Gegenspieler einsetzen, auch wenn Mimik und Gestik in der Gestaltung wesentlich sind. Bühnenbild und Kostüm kön­nen den Inhalt anders ausdeuten, als wenn ich allein mit anonymer weißer Maske und gleich­bleibendem Trikot arbeite. Zur Zeit leite ich eine Schule für Pantomimen in Paris, in der 30 Künstler aus verschiedenen Län­dern neun Monate studieren. Ich hoffe, dies wird der Pantomime-Arbeit weiter nützen, weil es mir die Möglichkeiten gibt, meine Erfahrun­gen, meinen Stil zu vermitteln. Ich darf wohl sagen, daß mir nichts am Nachahmen liegt. Mei­ner Meinung nach muß jeder seine nationale Eigenart in der Kunst behalten. So entwickelte seit langem Henryk Tomaszewski in Wrocław einen eigenen polnischen Stil, ebenso Ladislav Fialka im „Theater am Geländer" in Prag. Ergeht wieder stark auf die historischen Traditionen zu­rück, hat aber eine völlig eigene Form. Wir stehen alle miteinander in regem Erfahrungsaustausch. Ich freue mich, daß ich auch für die noch junge Pantomime-Bewegung in der Sowjetunion bei drei großen Gastspielreisen etwas tun konnte. Unter der Jugend der Welt — erfreulich ziel­gerichtet auch in der DDR — wächst das Inter­esse für diese Kunst. Ich erlebte das auch in den USA, wo junge Menschen, die über die Welt nachdenken und sich mit ihr auseinandersetzen. Pantomimegruppen bildeten. Die fruchtbare Wechselwirkung — um auf den Ausgangspunkt Ihrer Frage zurückzukommen — ist in der Ensemblearbeit immer größer, als wenn man allein arbeitet.

Frage: Wie steht es mit der Pantomime und ihrer Beziehung zu anderen Kunstformen?

Antwort: Es gibt natürlich überall Wechselwir­kungen, zum Beispiel hat die Pantomime — wie schon erwähnt — den Tanz und der Tanz die Pantomime befruchtet. Der Einfluß auf Film, auf Fernsehen, vor allem auf das Theater von heute ist unverkennbar.

Immer wieder traf ich bedeutende Schauspieler und Künstler, hatte Begegnungen mit großen Darstellern, auch zum Beispiel mit dem Brecht-Theater. Dies war besonders anregend, ja be­deutungsvoll für meine Arbeit. Ich glaube, daß man sich stark dem Gebärdentheater zuwenden muß, daß eigentlich jeder Schauspieler auch die Kunst der Pantomime beherrschen sollte und mit dem Körper zu arbeiten versteht. In vielen Ländern zeichnete man Filme meiner Arbeit auf — insgesamt mehr als 20! —, Arbeits­studien und Programme — übrigens auch die DEFA und der Deutsche Fernsehfunk. Ich freue mich darüber, weil ich in allen diesen Bemühun­gen Verbündete für meine Kunst sehe, für eine Kunst, die wir brauchen und um die es sich zu kämpfen lohnt. Ich konnte vor Arbeitern auf­treten, in Gefängnissen, vor Gehörlosen, vor In­tellektuellen, ob in Afrika, Vietnam oder wo auch immer — diese „Sprache", mein Anliegen wur­de verstanden, weil es mir um das gültig Menschliche darin geht. Ich möchte auch immer wieder zu Ihnen kom­men. Es ist wichtig, daß wir alle Kontakt haben. Ich habe das Gefühl, daß wir durch die Panto­mimesprache verbunden sind, aber auch mit dem Herzen und denselben Bestrebungen, daß wir eine glückliche Welt aufbauen wollen. Unser französischer Poet Eluard sagte einmal, daß der Künstler wie ein sehender Bruder sein müsse, der dem blinden Bruder die Hand gibt, um ihm das Licht zu zeigen. Denn der Mensch muß im totalen Licht leben.

In diesem Sinne wollen wir leben. Wir wissen, daß wir dieselbe „Sprache", dieselben Anschau­ungen besitzen. Und damit hoffe ich auf ein gutes Wiedersehen.

Das Gespräch führte Ingeborg Stiehler

Quelle: Urania Universum 17, 1971, S.99-108