Mittwoch, 10. November 2010

Holger Mittenzwei (1943-2010)

Tja, Holger - Du wirst uns fehlen! Ich kann mich erinnern an jene Stunden, wo wir zusammensaßen, miteinander redeten. Oft ging es um die Politik, die Dir heute mehr als je zuvor gegen den Strich ging. Nicht ohne Bitterkeit gedachten wir schönerer Zeiten, als das Leben noch in geordneteren Bahnen verlief. Und oft haben wir herzlich miteinander gelacht. Niemals sah ich Dich ohne Fliege, so hat fast jeder in der Stadt Dich gekannt - seit vielen Jahren. Denn Du warst ein Original! Mal mit dem Zeichenblock unterm Arm, mal mit Freunden im Café, mal vom Einkauf auf dem Heimweg die "Sorge" hochwärts schlendernd...

Oft erinnerten wir uns an gemeinsame Freunde. So an Hans Günnel, den Sänger am Geraer Theater, der immer elegant, leicht parfümiert erschien - der weiße Schal flatterte künstlerisch über die Schulter; oder an Eberhard Dietzsch, der als Maler und als Mensch sich (und uns) stets treu blieb, und unnachahmliche, fast sogar bizarre Bilder schuf - und dennoch ein Realist war. Das Malen war auch Deine Welt - und von Eb hast Du viel gelernt. Als Dekorateur am Konsument-Warenhaus hattest Du mit dem Malen angefangen - das war kein leichter Weg. Aber es gab nichts, was Du lieber tatest als zeichnen und malen ... abgesehen mal von einem guten Tropfen, den wir viel zu selten miteinander tranken. In memoriam, Holger. Danke, daß es Dich gab! Du warst eine Bereicherung für diese Welt!

So haben wir jetzt wenigstens die Fliege gemeinsam: ich in rot und Du in schwarz gepunktet...

Freitag, 5. November 2010

"Pierrot"

"Пьеро"

Прости меня, дружок, за пьяное перо.
На эту болтовню, пожалуйста, не сетуй.
Но знай, что до сих пор заплеванный Пьеро
На тоненьких ногах шатается по свету.

И мы, встречаясь с ним на ленточках дорог
Не ведая бредем, с Пьеро почти-что рядом.
Что только он подрос, напялил свитерок
И стер с лица сурьму, белила и помаду,

Но сбросив мишуру фигляра и шута
В нем корчится душа, огромная, живая.
И полночью, когда с улыбкою у рта
Людские души спят, душа Пьеро пылает.

И на ее огне он стряпает стихи
И дремлет на плече у розоватой зорьки.
Рука его крепка, глаза его сухи,
А строки на бумаге солоны и горьки.

Но утро настает и сумку как суму,
Закинув за плечо, он скатится с порого.
И все же я, представь, завидую ему,
И все же я, поверь, иду его дорогой.

Автор стиха: Вадим Егоров
Автор музыки и исполнитель: Александр Суханов

Montag, 1. November 2010

Arnold Böswetter

Eine kleine Werbung für meinen Freund Locci:
Herr Arnold Böswetter, ein Alleskönner der alten Schule
(Jg. 1928) beschert dem Publikum 30 schöne Böswetter-Minuten. ("Fräulein Katja, Sie haben aber ein schönes Kleid an!")
Das Publikum erwarten das gesprochene und gesungene Wort, deutsches Liedgut, Interessantes zu Weinzeremonien, anschauliche körperliche Ertüchtigungen nach Turnvater Jahn, Entspannungsübungen frei nach Jacobsen, medizinisch wertvolle naturkundliche Anwendungen und Wissenswertes zum Mittelstrahl...

www.locci.de

Mittwoch, 20. Oktober 2010

Ein richtiger Clown...

Auch Karandasch bediente sich während seiner Vorstellungen verschiedener Tricks mit "selbstgebastelten" Requisiten:

...Это чисто бытовое, «сезонное» явление побудило и меня прихватить с собой в манеж фотоаппарат. Взяв футляр от фотоаппарата, я перекиныл его через плечо и со штативом вышел в манеж, как истый фотолюбитель. До определенного момента я, как и всегда, заполнял паузы в программе, временами напоминая зрителью о своем «фотоаппарате» тем или иным способом, хотя бы перешивал его с плеча на пелчо. Наконец, в удобный момент я ставил штатив, «приспособлял» на нем «фотоаппарат», раскрывал его – и получался крошечный столик, накрытый салфеткой, на нем солидная закуска. Выпив и закусив, я складывал аппарат и уходил за кулисы. Зритель хорошо принимал эту неприязательную шутку. (На арене советского цирка, Карандаш, М., 1977, с.57)

Eine reine "Saisonerscheinung" brachte mich einmal darauf, auch in die Manege einmal einen Fotoapparat mitzunehmen. Das Futteral vom Fotoapparat nahm ich ab, hängte ihn über die Schulter und mit dem Stativ lief ich in die Manege, wie ein richtiger Amateurfotograf. Bis zum bestimmten Moment füllte ich, wie auch immer, die Pausen im Programm aus, indem ich von Zeit zu Zeit begann, die Zuschauer mit meinem "Fotoapparat" in dieser oder jener Weise, selbst aufzunehmen. Endlich, an einem passenden Moment stellte ich das Stativ auf, darauf den "Fotoapparat", öffnete ihn und es kam ein winziger kleiner Tisch zum Vorschein, der von einer Serviette bedeckt war, darauf befand sich ein solider Imbiß. Ausgetrunken, und aufgegessen, legte ich den Apparat zusammen und ging in die Kulissen weg. Die Zuschauer haben diesen kleinen Scherz sehr wohl verstanden ...

Karandasch war eben ein sehr volkstümlicher Künstler!

Montag, 18. Oktober 2010

ERKLÄRUNG

zu meinem Eintrag im Blog http://clownerlebnisse.blogspot.com
vom 16. Dezember 2009
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ERKLÄRUNG

Heute erhielt ich von einem Anwalt der Rechtsnachfolgerin des berühmten Künstlers KARL VALENTIN eine Abmahnung wg. einer "Urheberrechtsverletzung", in welcher erstgenannter mich unter Androhung einer sehr hohen Strafe dazu aufforderte, eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben. Aus diesem Grunde habe ich den am 16. Dezember 2009 von mir auszugsweise zitierten Text dieses hochverehrten Künstlers ersatzlos gelöscht, und ich werde auch zukünftig keinerlei Texte von Karl Valentin mehr zitieren oder erwähnen.

Clown Gerrit
Gerrit Junghans

Pößneck, den 15. 10. 2010
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Freitag, 1. Oktober 2010

Das Experiment von Skåra

In einem Bericht über ein Theaterseminar in Schweden beschreibt Manfred Welwerth folgendes interessante Erlebnis:

"Ich habe in der Theaterschule von Skåra vor zehn Jahren ein Experiment gemacht. Wir haben uns dort den unbegabtesten Schauspielschüler ausgesucht und ihm gesagt, er solle auf die Bühne gehen und nichts spielen, nichts tun, nichts denken. Das versprach er und hat es in einer erstaunlichen Weise eingehalten. Den anderen Studenten sagten wir, daß wir nach der Mittagspause ein Experiment veranstalten. Wir hätten einen Kollegen gebeten, etwas zu zeigen, und man sollte sagen, was.

Wir ließen nach schlechter alter Theatermanier das Licht ganz langsam verlöschen und den Vorhang millimeterweise aufgehen. Es war eine Stille, als wäre es die Uraufführung eines Shakespeare-Stückes. Und dieser arme Mensch stand auf der Bühne in seiner ganzen Erbärmlichkeit, er hat nicht einmal mit den Augen geblinzelt. Im Zuschauerraum war es fünf Minuten still, dann zehn Minuten. Etwa nach zwölf Minuten — ich habe das protokolliert — fing jemand an zu lachen, und das Gelächter hielt fünf Minuten an. Sie schüttelten sich vor Lachen, und danach trat eine große Traurigkeit ein. Nach 20 Minuten schlössen wir den Vorhang, setzten uns in den Seminarsaal und fragten:

Was habt ihr gesehen?

Anfangs wurde gesagt, die Tragik des Menschen in der Industriegesellschaft. Die Verlorenheit, Entfremdung des einzelnen. Dann aber diese Kühnheit der Verweigerung, die der Kollege großartig gespielt habe. Er sei hellwach, durch nichts zu beeinflussen. Er verweigere sich und entziehe sich somit der Integration durch ein unmenschliches System. Dann aber hätten sie gelacht, weil gezeigt wurde, wie dieser Mann doch mit einer Miene der absoluten Erstarrung die Dinge, die um ihn herum in einer Großstadt geschehen, nicht mehr registriert, sie bereits mit einer Art großen Verweigerung abweist. Das sei irrsinnig stark gewesen, wunderbar gespielt. Zum Schluß hätte sie die Traurigkeit überfallen über die Lage des Menschen in Schweden.

Ich sagte ihnen, daß er gar nichts gespielt habe. Und hier habe man die Grundfunktionen des Theaters selbst erlebt: Theater ist in der Lage, bevor der Schauspieler einen Vorgang zeigt, alles, was auf der Bühne geschieht, als Vorgang zu zeigen, weil diesen der Zuschauer erwartet und auf die Bühne projiziert. Das ist ein gewaltiges Vermögen. Davon hat das absurde Theater praktisch ein Jahrzehnt gelebt, indem es die Tatsache, daß nichts geschieht, als aufregenden Vorgang zeigt...

Zuschaukunst besteht eben darin, daß der Zuschauer zu dem auf der Bühne Gezeigten seine eigenen Gedanken, Bedürfnisse, seine eigenen Erfahrungen immer ins Spiel bringt."

Bemerkungen:

Die Wirkung des Theaters beruht auf der Verabredung, der Schauspieler werde auf der Bühne schon etwas Bedeutsames verkünden oder zeigen; er sei schließlich mit einer bestimmten Absicht auf die Bühne gegangen und so müsse man auch bereit sein, ihm zuzuhören und zuzuschauen. Immerhin, vielleicht könne man daraus etwas lernen, oder habe zumindestens seinen Spaß. Welch' ein Irrtum das ist, beweist allein schon dieses Experiment! ... und es ist nicht nur die "Zuschaukunst", um die es hier geht. Das Experiment zeigt auch, wie leicht doch Menschen zu beeinflussen sind, wenn man ihnen erklärt, was sich Großartiges vor ihren Augen gerade abspielt.

M.Werkwerth, Theater in Disskussion, Berlin 1982, S.235

Samstag, 18. September 2010

Denken und Handeln - Der Untertext


Dieses Beispiel zeigt, daß Haltungen und Handlungen auf der Bühne immer geprägt sind von bestimmten Überlegungen und fiktiven Handlungsgedanken. Und es ist keineswegs so, daß die psychologische Einfühlung in einen realen Vorgang bereits zu dem gewünschten Ergebnis, nämlich einer überzeugenden Darbietung, führt. Denn erst die Absichten des Schauspielers machen einen szenischen Vorgang interessant:
Bekanntlich spricht der Schauspieler auf der Bühne heutzutage nicht seinen eigenen, sondern den Text des Autors. Aus diesem Text ist der Handlungsverlauf zu erschließen, welcher weit weniger festgelegt ist als der Text. Der Schauspieler hat allerhand Freiheit für auslegende Ent­scheidungen, also für die Vorgänge und Haltungswechsel. Eine bestimmte Reihe von Fixpunkten aber muß er unbedingt bedienen. Da hat er keine Wahl. Hamlet ersticht Polonius, Ferdinand gibt Gift in das Glas, Faust tötet Valentin. Jede dieser Figuren hat eine mehr oder weniger große Anzahl solcher Fixpunkte unbedingt anzusteuern. Doch selbst bei diesen eindeutig vorgegebenen Entscheidungen liefert der Autor den Untertext nicht mit.

Der Untertext, die Kette der Motive, ist die ureigene An­gelegenheit des Schauspielers. Hat er nicht gelernt, diese Kette wider­sprüchlicher Motivationen konkret herzustellen, sondern sich zum Bei­spiel angewöhnt, die Haltungen seiner Figur in etwa und lediglich äußerlich auszustellen, ist sein Spiel von vornherein flach, dürftig und undifferenziert, so exzellent es sich geben mag. Die hier empfohlene Me­thode will den schöpferischen Darsteller, der glatte Oberflächlichkeit als lähmend empfindet und die rauhe Tiefe der Figur sucht. Der Untertext ist ein wesentliches Mittel, den inneren geistigen Reichtum einer Figur zu erschließen, das Wegfließen ins Gefühl zu blockieren und den geistigen Reichtum der Figur für die zahlreichen Reproduktionen einer Inszenie­rung dann auch stabil zu bewahren.

Noch aber geht es nicht um die stabilisierende Funktion des Unter­textes für die Fixation des Handelns, sondern zunächst einmal darum, das Herstellen von Untertext zu erlernen. Indem der Student eine Situation, obwohl sie nur fiktiv gegeben ist, praktisch handelnd in die Empfindung zu bekommen sucht, entstehen bei ihm die die Aktion steuernden Handlungsgedanken. Also keine passive Hingabe an die Situation ist Voraussetzung für den Untertext, vielmehr grundsätzlich eine vorantreibende Auseinandersetzung, die auf Entscheidung drängt. (...)

Diese Kette von Motiven ist keine Kategorie der Psychologie, sondern eine der Schauspieltheorie. Zwar wird der Wirkungsmechanismus von psychischen Prozessen und physischen Aktionen genutzt, also der im Alltag wirksame funktionelle Zusammenhang von aufkommenden Hand­lungsgedanken und der von ihnen ausgelösten Handlungen, aber ihre natürliche Beschaffenheit genügt nicht für die künstlerische schauspiele­rische Tätigkeit. Nicht nur das Handeln des Schauspielers ist ja fiktiv, sondern auch sein Denken, das dieses Handeln auslöst. Und damit Schauspielen zustande kommt, also etwas Ästhetisches, muß dieses fiktive Denken verwesentlicht, diszipliniert und komprimiert werden. Naturalismen sind unbrauchbar.
Der schauspielerische Vorgang gibt im konkreten einzelnen stets etwas Besonderes aus dem Allgemeinen, er ist als eine ästhetische Kategorie die Widerspiegelung verwesentlichten menschlichen Handelns. Demzufolge ist auch die Kette der Motive, der Untertext, eine verwesentlichte, widersprüchliche Kette von Handlungs­gedanken, in der keine alltäglich-natürlichen Lücken gestattet sind. Indem der Untertext bewußt widersprüchlich strukturiert wird, als ein Wechsel der Einstellungen zur Situation, löst er den Wechsel der Haltungen aus.

Quelle: Gerhard Ebert, Rudolf Penka (Hrsg.) - Schauspielen, Henschelverlag, Berlin (DDR), 1985, S. 85-87
Foto: Wolfgang Heinz als Nathan der Weise

Prof. Dr. Gerhard Ebert, Jahrgang 1930, 1951-55 Studium der Theaterwissen­schaft am Deutschen Theateriristitut in Weimar und an der Theaterhochschule Leipzig, 1955-61 Theaterredakteur beim »Sonntag«, seit 1963 stellvertreten­der Direktor an der Staatlichen Schauspielschule Berlin, seit 1981 1.Prorektor an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin. Dozent für Theorie und Geschichte des Theaters. Theaterkritiker (»Sonntag« 1955—64, »Theater der Zeit« 1977-79, »Junge Welt« 1979-84, »Neues Deutschland« 1984).
Siehe auch - http://www.berliner-schauspielschule.de/ und
http://www.neue-theaterstuecke.de/

Freitag, 17. September 2010

Der Tänzer Manfred Schnelle


Der Tänzer Manfred Schnelle (Kulturempfang in Erfurt 2011)
Es gibt ganz sicher nur wenige Tänzer, die Architektur, Musik und Bewegung so meisterlich in Einklang zu bringen verstehen, wie Manfred Schnelle. Sein Tanz widerspiegelt ein ganz eigenes, tiefes Gefühl für die Wirklichkeit. Unvergeßlich ist mir ein Tanzabend – heute würde man dazu sagen eine "performance" – bei dem Schnelle im sakralen Raum der Johanniskirche Gera zu Orgelmusik tanzte. Fließende, aufsteigende und absinkende, quer den Raum durch-messende Bewegungen, Eleganz und eine schöne, symbolhafte Linienführung waren kennzeichnend für diesen Abend. 

Viele Jahre später dann, am gleichen Ort, trat Anke Gerber mit musikalischer Begleitung von "media nox" auf. Es war eine ganze andere Art der Darbietung: modern, fast ein bißchen frech doch zugleich präzise und quicklebendig... ein Kontrastprogramm.

Der Tänzer und Choreograph Manfred Schnelle versteht sich in der Tradition des Ausdruckstanzes von Marianne Vogelsang. Nach seinem Engagement als Tänzer an der Staatsoper in Dresden unterrichtete er in Leipzig Ausdrucks- und Historischen Tanz, anschließend war er bis 1991 am Volkstheater Rostock als Tänzer und Choreograph tätig.

Seit vielen Jahren ist Manfred Schnelle auch mit den Übungen des Hatha-Yoga vertraut und wurde 1993 in den BDY als Yogalehrer aufgenommen. Wesentliche Impulse in der Meditation erhielt er durch Prof. Peter Heidrich und Pater Enomiya Lassalle. Letzterer lud ihn zur Meditation 1988 nach Japan ein. Eine intensive und langjährige Arbeit als Tänzer, als Lehrer und Choreograph verbindet ihn sowohl mit der evangelischen wie mit der katholischen Kirche.

Für seine künstlerischen Leistungen erhielt Manfred Schnelle das Bundesverdienstkreuz. 

* * * 

(ergänzt am 3. März 2016)  
Zu meiner Überraschung trafen wir uns am 8. Oktober 2001 zum Kulturempfang des katholischen Bischofs Wanke in Erfurt wieder – der Tänzer und der Clown. Ich war als Thüringer Künstler ebenso eingeladen wie Manfred Schnelle. Doch Manfred tanzte ... zu Orgelimprovisationen an der großen Domorgel des Erfurter Doms. Konzentriert und gemessen waren seine Schritte, fast schwebend, und dennoch irgendwie irdisch. Die Gestik seiner Arme und Hände, die Beugungen seines Körpers, zeichneten Linien und Flächen, Aufstrebendes und Fallendes in den Raum. Es war als sähe man eine ganze Partitur kryptischer Figuren vor sich, als gewänne der Orgelklang eine eigene Gestalt. Atemberaubende Stille, nachdem der letzte Ton verklungen war. So still wie er gekommen war, verließ der Tänzer Manfred Schnelle das Podest.

Es war ein Wiedersehen nach langer Zeit. Sehr viel hatte sich in den Jahren geändert, seit wir uns mal in Dresden und später in Rostock – immer wieder trafen, redeten, philosophierten ... über Kunst, über den Tanz, über Pantomime, über Gott und die Welt. Manfred Schnelle war war ein großer, ein einfühlsamer Tänzer und Choreograph, ein sensibler, aber doch auch konsequenter und entschiedener Mensch, ebenso kritisch wie nachdenklich...

Für sein langes Arbeitsleben erhielt Manfred Schnelle vom reichen, kapitalistischen Staat BRD eine beschämend geringe Rente, die kaum zum Überleben reichte. So mußte er bis zu seinem Tod ununterbrochen arbeiten, um leben zu können. Er starb 80jährig am 17. Februar 2016.  Der Dresdner Fotograf Günter Starke hat im Bild festgehalten, was mit Worten kaum zu beschreiben ist, und was den Tänzer Manfred Schnelle unverkennbar charakterisiert. Mit seiner freundlichen Genehmigung hier ist es:


Foto: Günter Starke DGPh

  Manfred Schnelle – für immer unvergessen!

Montag, 9. August 2010

Die große Tänzerin und Pädagogin Palucca

In einem interessanten Beitrag schreibt Edith Krull über die Tänzerin Palucca folgendes:

Das erste, was sie genau wußte, als sie vor mehr als fünfzig Jahren zu tanzen begann, war: Ich will nicht hübsch und niedlich tanzen. Für ein ganz junges Mädchen jener Epoche vor dem ersten Weltkrieg war das eine große und selbständige Erkenntnis, denn der Tanz hatte nach den Regeln des damals herrschenden bürgerlichen Geschmacks unbedingt hübsch und niedlich zu sein und weiter nichts.

Die ersten Tanzschritte

So fing die junge Palucca – sie heißt wirklich so, der klingende Name ist kein Künstlerpseudonym ihre Tanzausbildung, zu der sie sich leidenschaftlich hingezogen fühlte, eigentlich schon im Widerspruch zur Kunstauffassung ihrer Zeit an, obwohl sie sich dessen damals natürlich noch nicht bewußt war. Der Lehrer, bei dem sie Ballettunterricht nahm – es gab damals noch keine staatlichen Ausbildungsstätten, und die einzige Tanzform, die gelehrt wurde, war die des Balletts hielt sie denn auch für ziemlich unbegabt. Sie hingegen wurde gequält vom Mißklang zwischen dem, was ihr als Ideal von Tanz vorschwebte, und dem, was als Tanz gelehrt wurde. So begann sie selbst an ihrem Talent zu zweifeln. Doch als sie, kaum achtzehnjährig, der Tänzerin Mary Wigman begegnete, erkannte Palucca, worauf es in ihrer Kunst ankam. "Es ist sehr schwer, der heutigen Generation klarzumachen, was für uns damals Mary Wigmans erstes Auftreten bedeutete", schrieb Palucca später. "Es war so etwas unerhört Neues, etwas so Elementares, daß mir sofort klar wurde: Entweder kann ich bei ihr tanzen, oder ich lerne es nie." Mary Wigman hatte, gemeinsam mit Rudolf von Laban, damals die Form des Neuen Künstlerischen Tanzes geschaffen, die entstanden war aus Protest gegen die überalterte Ausdrucksweise des in jener Zeit ganz im Formalen, Virtuosen und Mechanischen befangenen klassischen Balletts. Die Sprache des Neuen Künstlerischen Tanzes hingegen war Ausdruck persönlichen menschlichen Empfindens in der Form freier künstlerischer Gestaltung, die nicht an die vorgeschriebenen Schritte des Balletts gebunden, sondern die schöpferische Leistung des Tänzers selbst war. Anfangs mit Befremden und Ablehnung aufgenommen, begann diese Tanzform sich dank Mary Wigmans künstlerischer Kraft gerade damals durchzusetzen, und Palucca wurde eine der ersten Wigman-Schülerinnen. Bald zeigte sich, daß sie auch eine der be­gabtesten und schöpferischsten war, und wenige Jahre darauf gehörte Pa­lucca zu den ersten Tänzerinnen Deutschlands.

Der neue künstlerische Tanz


Ein Kennzeichen des Neuen Künstlerischen Tanzes ist, daß seine Schöpfun­gen an die Person gebunden bleiben, die sie hervorbrachte. Wie man einem Komponisten nichts "nachkomponieren", einem Schriftsteller nichts "nach­schreiben" kann, will man nicht nur billige Kopien liefern, so kann man auch einem Interpreten des Neuen Künstlerischen Tanzes nichts "nachtanzen", höchstens zur eigenen Übung und Vervollkommnung. Deshalb ist es heute kaum noch möglich, ein Bild davon zu geben, wie die Tänze Paluccas aus­sahen; es ist leider auch nur wenig davon im Film festgehalten worden. Einige Kritiker versuchten damals, ihre Tänze zu beschreiben, etwa so: "Die­ser jugendfrische kleine Kraftmensch mit dem kecken Gassenjungenprofil ist eine Kämpfernatur, scheint mit dem Raum wie mit einem unsichtbaren Feinde zu ringen, marschiert mit festem, sicherem Paradeschritt zum Angriff vor, umkreist in wilden Sprüngen den Gegner, entzieht sich seinen Gegenstößen durch überraschende Schwenkungen und Wendungen, stampft, fliegt über die Bühne, fährt in kreiselnden Wirbelstürmen durch die Luft und trium­phiert schließlich über das besiegte Chaos des Raumes, das durch Schritte, Sprünge und Schwünge zum harmonisch geordneten Kosmos gebildet wurde." Ihre starke Wirkung auf die Zuschauer umschrieb man mit den Worten: "Wenn man sie sieht, sagt man nicht: Wie herrlich ist die Palucca, sondern: Wie herrlich ist das Leben." Oder: "Keine andere Tänzerin hat so sehr die Gabe und Gnade des Frohmachens nur aus der Bewegung heraus, wie diese hier."


Das tänzerische Geheimnis der Palucca


Um das Jahr 1930 war Palucca die berühmteste und beliebteste deutsche Tänzerin geworden und erregte auch im Ausland überall, wohin sie kam, Stürme der Begeisterung. Wenn Palucca sich in diesen ersten zehn Jahren ihres künstlerischen Schaffens an die Spitze der deutschen Tanzkunst stellen konnte, so hatte sie das nicht allein ihrer staunenswerten, vielbewunderten Technik und Körperbeherrschung zu danken, an deren Vervollkommnung sie mit eiserner Energie und leidenschaftlichem Fleiß arbeitete ihre Sprünge waren damals beinahe weltberühmt. Es kam eine außerordentliche Musikali­tät hinzu, die sie befähigte, die gewählten Musiken bis ins letzte auszudeuten, vor allem aber ihre schöpferische Begabung, mit der sie ihre Tänze aus tiefem menschlichem Erleben heraus gestaltete. Diese Tänze hießen etwa "Im weiten Schwung", "Plötzlicher Ausbruch", "Stilles Lied", "Fernes Schwingen"; sie waren gleichsam Ausdrucksbilder seelischer Vorgänge, die sich bei ihren Zuschauern wiederum in ein starkes menschliches Erlebnis umsetzten. Palucca stand auf der Höhe ihres Schaffens, als der Faschismus über Deutsch­land kam. Wie viele andere fortschrittliche Künstler wurde auch sie schika­niert und diffamiert, schließlich verbot man ihr das öffentliche Auftreten und schloß ihre 1925 gegründete Dresdner Schule, in der sie, pädagogisch ebenso begabt wie künstlerisch, eine ganze Schar junger Tänzer ausgebildet hatte. Jahrelang arbeitete sie allein für sich in ihrem Dresdner Heim, bis diese ihre letzte Zuflucht bei dem großen Luftangriff 1945 mit allen Noten, Büchern, Bildern und unersetzlichem Fachmaterial zerstört wurde. Sie selbst konnte sich nur mit knapper Not aus einem brennenden Keller retten. Sofort nach der Befreiung jedoch begann Palucca mit ungebrochener Kraft wieder zu arbeiten; sie stellte sich für den Neuaufbau des Dresdner Kultur­lebens zur Verfügung.


Bereits am 1. Juli 1945 eröffnete sie ihre Schule und trat kurz darauf auch mit einem Programm neuer Tänze an die Öffentlich­keit, in denen sie Ernst und Heiterkeit, Lebensfreude und Erinnerungen an die dunklen Zeiten, Erfahrungen der Vergangenheit und Freiheit des Neu­beginns miteinander verband. Noch einmal führte ihre schöpferische Energie sie auf einen künstlerischen Höhepunkt; dann zog sie sich um 1950 von der Bühne zurück.

Die berühmte Palucca-Schule

1949 war die Palucca-Schule in eine Staatliche Fachschule für künstlerischen Tanz umgewandelt worden; Palucca selbst unterrichtet dort heute noch und bestimmt weitgehend das künstlerische Gesicht des Instituts, ihr großes Fachwissen und ihre geniale tänzerische Begabung nun für die Ausbildung des Nachwuchses nutzbar machend. Sie hat, was nur wenigen Tänzerinnen be­schieden ist, ihre schöpferische Lebensleistung als Künstlerin organisch in eine ebenso bedeutende Leistung als Lehrende überleiten können. ( . . . )

Staatspräsident Wilhelm Pieck gratuliert

Mit hohen Anerkennungen und Auszeichnungen würdigte die Regierung der DDR das bedeutende Schaffen Paluccas. 1950 wurde sie zum Ordentlichen Mitglied der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin berufen, 1960 erhielt sie den Nationalpreis der DDR, und zu ihrem sechzig­sten Geburtstag 1962 wurde ihr der Professorentitel verliehen. In seiner Ansprache zur Eröffnung der Deutschen Akademie der Künste am 24. März 1950 begründete Staatspräsident Wilhelm Pieck die Berufung Pa­luccas mit folgenden Worten: "Mit Ihrem Namen, Frau Palucca, verbindet sich nicht nur in Deutschland der Begriff des Tanzes. Ihre starke künstlerische und menschliche Persönlichkeit gab Ihnen die Fähigkeit, neben der in der ganzen Welt gefeierten Solotänzerin die hervorragende Pädagogin zu wer­den, die dem deutschen Volke und auch dem Ausland viele große Tänzer und Tanzpädagogen gegeben hat. Seit 1945 sind Sie nach Jahren der Unter­drückung als Künstlerin und als Staatsbürgerin unermüdlich tätig gewesen, um das kulturelle und das staatliche Leben unseres Volkes zu entwickeln."

Quelle: Die Zaubertruhe, Verlag Neues Leben, Berlin 1966, S. 202ff.

Nach der Übernahme der DDR wurde auch das künstlerische Erbe der Palucca "übernommen". Und so ging man auf Hiddensee mit dem Sommerhaus von Gret Palucca um:

http://clownerlebnisse.blogspot.com/2009/03/gret-palucca-1902-1993-ihre-in-munchen.html

Siehe auch - http://www.arila-siegert.de/knz/palucca.htm#Festprogramm

Freitag, 2. Juli 2010

Marcel M a r c e a u - Die Kunst der Stille

Etwa 1970 interviewte Ingeborg Stiehler den berühmten französischen Pantomime M.M.
Dieses Interview erschien im URANIA-Universum der DDR. Es ist für einen heutigen Schauspieler, Pantomimen oder Clown nicht nur wichtig zu wissen, wer dieser einmalige Künstler ist - man lernt im nachfolgenden Textauszug auch seine Auffassungen kennen, die ihn so einziartig machten. Und das ist gerade für die Clownerie von entscheidendem Vorteil:

Marcel Marceau wurde 1923 als Sohn eines Fleischers in Strassbourg geboren. Er verlebte seine Kindheit in Lille und in der Heimatstadt, wo er bis 1939 das Gymnasium besuchte. Wie der Vater, der von der Gestapo verhaftet und erschossen wurde, kämpften auch die Söhne Alain und Marcel in der Widerstandsbewegung gegen den Faschismus. Marcel Marceau arbei­tete in der Resistance als Lehrer für Kinder, deren Eltern von den Faschisten ermordet worden wa­ren. Gegen Kriegsende begann er das Schau­spielstudium, wurde jedoch noch als Soldat ein­gezogen, nahm an der Ardennen-Schlacht teil und war als Besatzungssoldat bis 1946 in West­deutschland eingesetzt. Während seiner Arbeit als Lehrer und in der Be­satzungszeit regte er seine Umgebung — in der Schule wie unter den Soldaten — zum Theater­spielen an. Einer kurzen Ausbildung in der Kunstgewerbeschule verdankt er die Förderung seines ausgeprägten Mal- und Zeichentalents. 1946 begann in Paris dann jener künstlerische Weg, der schließlich zur eigenen „Sprache" der Pantomime führte, in der Marcel Marceau Welt­ruf errang.

Frage: Wie hat sich die Pantomime als Kunst­form entwickelt, und worin sehen Sie ihre typi­schen Merkmale?

Antwort: Die stumme Sprache der Gestik und Mimik, die „Kunst der Stille", ist jahrtausende­alt — eine der ältesten Kunstformen überhaupt. Ihr Ursprung geht auf jene Zeiten zurück, in de­nen die Menschen begannen, sich mimisch und auch im Tanz auszudrücken, Gefühle und Erleb­nisse widerzuspiegeln. Schon in den Theatern der Griechen und der Römer — 300 und 400 Jahre vor der Zeitrechnung — wurde sie viel­seitig geübt. Berühmte Schriftsteller der Antike schrieben nur für Pantomimen. Damals gab es zum Beispiel in Rom bis zu 6000 Pantomimen. Reiche Patrizier hielten sich „Hauspantomi­men" — Mimi domestici, die die Gäste unter­hielten, und es gab Mimi urbani, die von der Stadt angestellt waren. Sie spielten kritisch-satirische Gestaltungen. Aus der Historie der Pantomime kann man nur Stationen andeuten. So gehört auch die Kunst der Mimen in den sakralen Spielen des Mittel­alters dazu. Die italienische Commedia dell'arte hat mit ihren Formen von Tanz, Akrobatik, Musik und Mimik bei der heutigen Kunst ebenfalls Pate gestanden. (...)

Die Pantomime gehört einerseits zum dramati­schen Theater, andererseits besitzt sie tänze­risch-rhythmische, ja artistische Elemente. Sie ist eine Kunst der Haltung, der Identifizierung des Menschen mit den Elementen der Natur, mit Gefühlen, Symbolen, mit Charakteren und Realitäten. In ihrer Form der Stilisierung über­höht sie menschliche Verhaltensweisen und Handlungen. Sie ist immer stark geistig durch­drungen von Lebensphilosophie, Gesellschafts­kritik und humanistischen Gedanken, will zu Auseinandersetzungen beitragen und auch aggressiv wirken, zum Beispiel soziale Fragen auf­decken oder angreifen. Sie will wie das Wort­theater — wie im Grunde jede echte Kunst — den Alltag der Menschen durchleuchten, Zeit­probleme widerspiegeln und den Zuschauer zu höheren Erkenntnissen führen. (...)

Frage: Wie war Ihr eigener Weg zu dieser selte­nen Kunst?

Antwort: Für meinen eigenen Weg studierte ich alles, was nur erreichbar war aus dieser bereits angedeuteten Tradition. So befaßte ich mich auch mit Formen des japanischen und des chi­nesischen Theaters, mit Brechts realistischer Kunst und vielem anderen. Aber ich greife vor. Im Jahre 1944 begann ich in Paris mit dem Schauspielstudium bei Dullin, dem Direktor des „Theatre Sarah Bernhardt". Dullin gilt als Max Reinhardt der französischen Bühne. Vorher war ich Lehrer in einem Heim elternloser Kinder, denen der Faschismus Mutter und Vater genommen hatte. Ich wurde dort nicht nur Zeichen-, sondern bald auch Schauspiel­lehrer, angeregt durch die kindliche Darstel­lungsfreude und Phantasie, die meinem von Kind an vorhandenen Nachahmungs- und Gestal­tungstrieb entsprach. Die Arbeit mit den Kindern war eine reiche, beglückende Zeit. Und vom „Schauspiellehrer" von einst bis zum Studieren­den und Darstellenden war dann der Sprung nicht allzu groß. In der Ausbildung bei Dullin begegnete ich Etienne Decroux, der uns in pantomimischen Übungen unterrichtete. Decroux schuf bereits seit 1926 ein eigenes Bewegungsvokabular, eine „Grammatik", beeinflußt von der Antike, von Skulpturen — auch von Rodin —, ebenso vom Expressionismus. (...) Decroux' Sprache des Körpers war unmißverständ­lich, seine Technik phantastisch, aber die Arbeit mit ihm äußerst hart. Doch sie nützte und half mir, einen eigenen Stil zu finden.

Die letzte Phase des Krieges mit den Kämpfen in den Ardennen als aktiver Soldat hatte diese Entwicklung unterbrochen. Ich war bis 1946 Besatzungssoldat in Westdeutschland und spiel­te natürlich für die Soldaten Theater. Sofort nach meiner Rückkehr nach Paris bekam ich erste, stumme Rollen bei Charles Dullin. Die erste Aufgabe in meiner heutigen Kunstsprache war eigentlich der „böse Harlekin" am Theater „Petit Marigny" bei Jean-Louis Barrault — auch ein Schüler von Decroux, der sich dem Theater zuwandte, aber viel mit Pantomime darin arbei­tete. Übrigens trug die Theaterpraxis wesentlich dazu bei, daß ich die Gesetzmäßigkeiten des Raumes, der Lichtregie, der Dekorationen und Kostüme, der Technik, der Farbe und der Musik erkannte, die bei der Pantomime zwar nicht vorrangig sind, aber dennoch eine Rolle spielen.

Frage: Welche technischen Besonderheiten können Sie uns aus der Pantomimearbeit schil­dern? Wie bereicherten Sie die vorhandenen Erfahrungen über die bisherigen Traditionen hinaus?

Antwort: Ich will versuchen, hier in „Zeitraffung“ – also typisch für die Pantomime – das Wesentlich zu erklären. Die Technik geht stark auf die Exercise-Grundlagen des klassischen Ballettes zurück. (...) Die Pantomime ist jedoch nicht wie der Tanz eine schwebende Kunst, in der man sich vom Boden löst, sondern man bleibt dem Boden verhaftet. Die Bewegun­gen werden durch langsamere Rhythmen be­stimmt, als dies im Tanz üblich ist, sie sind in­haltlich geraffter, plastischer. Die Überhöhung und Stilisierung realistischer und poetisch-lyri­scher Reaktionen verlangt einen bis ins letzte durchgebildeten Muskelapparat, um die feinsten Reflexionen ausdeuten zu können. Der Le­ser kann sich gewiß die Bedeutung eines ein­seitig verzogenen Mundwinkels, des winzigen Zuckens einer Augenbraue, des Kopfes, der Schultern, der Arme, Bewegungen einzelner Finger — in Ausdruck umgesetzt — vorstellen, ja erklären.

Ein Beispiel: Wir unterscheiden bei Handbewe­gungen eine „geometrische Hand", die eckig streng einen Raum nachzeichnet, ihn „sichtbar macht", oder eine romantisch-lyrische Hand — weich, zärtlich, gefühlvoll —, die menschliche Wärme, Zuneigung, Liebe charakterisiert. Es gibt die „Identifizierungshand", die Begriffe aus­drückt wie Kraft (geballt), Schmerz (verkrampft), Kampf usw. Es gibt die „orientalische Hand" aus der Tradition Indiens, Japans, Koreas usw. Hand- und Fingerstellungen symbolisieren hier Tiere und Begriffe. So ließen sich viele Körper­reflexionen schildern, in denen sich die Bewe­gung, die Gestik und Mimik der Ausdrucksab­sicht unterordnen, wo der Körper zum Instru­ment des Geistes wird. Und das verlangt vor allem vollendete Harmonie in jeder Bewegungs­phase. Ich werde zum Beispiel einer aktiv arbei­tenden Hand in einer Pantomime jeweils eine Gegenreaktion der anderen Hand entgegenset­zen, um eine ausgleichende Harmonie des Gan­zen zu erreichen.

Da Sie nach Neuem fragten... Ich schuf zum Beispiel die „Luftstütze", das Stützen auf un­sichtbare Gegenstände, wie dies auf dem „Jahr­markt" geschieht — hier das Aufstützen auf ein nicht existentes Geländer, oder bei der Panto­mime „Im Park" — auf die Lehne der nicht vor­handenen Bank. — Ebenso wird der Stock „sichtbar", wenn ich den alten Mann gestalte, der sich darauf stützt, oder der Tisch, wenn ich bei der „Abendgesellschaft" esse. In der Stilübung „Der Käfig" konkretisiere ich die Wände — hier übrigens gedacht als Symbol für die Begrenzungen im Leben des Menschen, nicht als Negation. Neu ist auch in meiner Arbeit die Einbeziehung eines „Gegenspielers", wenn ich zum Beispiel ein Liebespaar in der Umar­mung nur durch die um den Hals gelegten Hände darstelle oder bei der Pantomime „Zirkus". Der Zuschauer „sieht" die Tiere durch meine Gegen­reaktion, wie überhaupt bei allen Mensch-Tier-Begegnungen, auch bei dem „Schmetterlings­fänger". Neuartig war ebenfalls die Form von „David und Goliath". Hier wird als Requisit eine Wand aufgestellt, hinter der sich — in der Vor­stellungswelt des Zuschauers — die Wandlung von einer Gestalt in die andere vollzieht. Durch das Wechselspiel der beiden rechts und links heraustretenden, handelnden und reagierenden „Partner" wird die Begegnung lebendig und deutlich.

Frage: — und das mit unnachahmlicher Meisterschaft. Wir werden den naiven, hintergründig schlauen David nicht vergessen, der, getrieben von dem kraftstrotzenden Goliath, den Gewalt­menschen schließlich tötet. Man bewundert die blitzschnelle geistige und körperliche Reaktion und Wandlung, die hohe geistige Forderungen stellt. Diese Pantomime besitzt tiefe Philosophie und gesellschaftliche Aussage.

Antwort: Das gehört zum inneren Kern meiner Arbeit. Sie werden es auch bei meinem „zweiten Ich", der bekannten Bip-Figur, erkennen. Die Figur entstand schon 1947, und ich schuf bisher 40 Pantomimen mit ihr. Sie wurde übrigens in allen Erdteilen, in über 60 Ländern der Welt, verstanden. Bip ist eine Symbolfigur mit zer­beultem Hut, schwankender roter Nelke daran, der kleine Mann aus dem Volke, der sich mit den Schwächen des Menschlichen, mit Freuden und Nöten der Umwelt auseinandersetzt. Er ist ein Philosoph, ein lächelnder Poet, der nie resigniert. Er fordert im Dialog mit seinem Publikum Ge­sellschaftskritik heraus. Das ist beabsichtigt, auch wenn er bei der „Abendgesellschaft" für manche unverbindlich heiter wirkt. Bip schildert durch Reaktionen auf die Umwelt, wie veräußer­licht und oberflächlich diese Gesellschaft ist. (...) Mit Bip schuf ich eine Gestalt, die Liebe zum einfachen Menschen besitzt und den Zuschauer vom Glauben an das Gute überzeugen soll, den ich ja selbst besitze!

Frage: Sie erreichen mit manchen Pantomimen auch Schockwirkungen, eindeutig kämpferisch ­humanistische Aussagen.

Antwort: Natürlich muß man auch diese „Spra­che" haben. Zum Beispiel zeige ich in der 16-Minuten-Pantomime „Gegensätze" 70 mensch­liche Verhaltensweisen, kontrastierende Wand­lungen — Schocks! —, den Rummelplatz neben dem Tod des Soldaten, Glück neben Schmerz, den Bettler und den Snob. Das soll aufrütteln, wie auch der „General beim Schachspiel" als Synonym militaristischer Macht. Auch die sehr problematische Pantomime „Bip im Kampf ge­gen die entfesselte Technik" ist ein Aufruf, den Fortschritt der Technik durch die Kraft des Men­schen zum Guten in der Welt zu nutzen. Gewiß kann man über das Symbolhafte darin, über Form und Inhalt stark diskutieren, aber das brau­chen wir — wie in jeder schöpferischen Arbeit. (...) Übrigens verwende ich nach eigener Wahl sehr viele klassische Musiken von Bach, Mozart und Händel. Ich liebe sie wegen ihrer ordnenden, so lebendigen Kraft. Musik soll in der Pantomime Situationen nur verstärken. Sie kann den Hand­lungsrhythmus unterstreichen, den Charakter. Selbst die „Stille" in der Musik— Pausen nach Akkorden, nach Melodien — kann dazu die­nen. (...)

(...) Ein Ensemble bietet natürlich vielsei­tige Möglichkeiten. Ich konnte das jahrelang erproben, bis ich mangels staatlicher Mittel das Ensemble auflösen mußte. Aber ich hoffe, wie­der ein Ensemble gründen zu können. Wir spiel­ten damals „Mimodramen", also Szenen und Handlungen mit mehreren Personen. Diese Form des stummen „Theaters" ist übrigens schon im 19. Jahrhundert erprobt worden. Wir führten unter anderem literarische Stoffe auf, Gogols „Mantel", das Märchen „Der Rattenfänger von Hameln", „Die Perücken" nach dem „Talisman" von Nestroy und andere. Bei der Ensembleform lassen sich ja sichtbare Gegenspieler einsetzen, auch wenn Mimik und Gestik in der Gestaltung wesentlich sind. Bühnenbild und Kostüm kön­nen den Inhalt anders ausdeuten, als wenn ich allein mit anonymer weißer Maske und gleich­bleibendem Trikot arbeite. Zur Zeit leite ich eine Schule für Pantomimen in Paris, in der 30 Künstler aus verschiedenen Län­dern neun Monate studieren. Ich hoffe, dies wird der Pantomime-Arbeit weiter nützen, weil es mir die Möglichkeiten gibt, meine Erfahrun­gen, meinen Stil zu vermitteln. Ich darf wohl sagen, daß mir nichts am Nachahmen liegt. Mei­ner Meinung nach muß jeder seine nationale Eigenart in der Kunst behalten. So entwickelte seit langem Henryk Tomaszewski in Wrocław einen eigenen polnischen Stil, ebenso Ladislav Fialka im „Theater am Geländer" in Prag. Ergeht wieder stark auf die historischen Traditionen zu­rück, hat aber eine völlig eigene Form. Wir stehen alle miteinander in regem Erfahrungsaustausch. Ich freue mich, daß ich auch für die noch junge Pantomime-Bewegung in der Sowjetunion bei drei großen Gastspielreisen etwas tun konnte. Unter der Jugend der Welt — erfreulich ziel­gerichtet auch in der DDR — wächst das Inter­esse für diese Kunst. Ich erlebte das auch in den USA, wo junge Menschen, die über die Welt nachdenken und sich mit ihr auseinandersetzen. Pantomimegruppen bildeten. Die fruchtbare Wechselwirkung — um auf den Ausgangspunkt Ihrer Frage zurückzukommen — ist in der Ensemblearbeit immer größer, als wenn man allein arbeitet.

Frage: Wie steht es mit der Pantomime und ihrer Beziehung zu anderen Kunstformen?

Antwort: Es gibt natürlich überall Wechselwir­kungen, zum Beispiel hat die Pantomime — wie schon erwähnt — den Tanz und der Tanz die Pantomime befruchtet. Der Einfluß auf Film, auf Fernsehen, vor allem auf das Theater von heute ist unverkennbar.

Immer wieder traf ich bedeutende Schauspieler und Künstler, hatte Begegnungen mit großen Darstellern, auch zum Beispiel mit dem Brecht-Theater. Dies war besonders anregend, ja be­deutungsvoll für meine Arbeit. Ich glaube, daß man sich stark dem Gebärdentheater zuwenden muß, daß eigentlich jeder Schauspieler auch die Kunst der Pantomime beherrschen sollte und mit dem Körper zu arbeiten versteht. In vielen Ländern zeichnete man Filme meiner Arbeit auf — insgesamt mehr als 20! —, Arbeits­studien und Programme — übrigens auch die DEFA und der Deutsche Fernsehfunk. Ich freue mich darüber, weil ich in allen diesen Bemühun­gen Verbündete für meine Kunst sehe, für eine Kunst, die wir brauchen und um die es sich zu kämpfen lohnt. Ich konnte vor Arbeitern auf­treten, in Gefängnissen, vor Gehörlosen, vor In­tellektuellen, ob in Afrika, Vietnam oder wo auch immer — diese „Sprache", mein Anliegen wur­de verstanden, weil es mir um das gültig Menschliche darin geht. Ich möchte auch immer wieder zu Ihnen kom­men. Es ist wichtig, daß wir alle Kontakt haben. Ich habe das Gefühl, daß wir durch die Panto­mimesprache verbunden sind, aber auch mit dem Herzen und denselben Bestrebungen, daß wir eine glückliche Welt aufbauen wollen. Unser französischer Poet Eluard sagte einmal, daß der Künstler wie ein sehender Bruder sein müsse, der dem blinden Bruder die Hand gibt, um ihm das Licht zu zeigen. Denn der Mensch muß im totalen Licht leben.

In diesem Sinne wollen wir leben. Wir wissen, daß wir dieselbe „Sprache", dieselben Anschau­ungen besitzen. Und damit hoffe ich auf ein gutes Wiedersehen.

Das Gespräch führte Ingeborg Stiehler

Quelle: Urania Universum 17, 1971, S.99-108