Freitag, 1. Oktober 2010

Das Experiment von Skåra

In einem Bericht über ein Theaterseminar in Schweden beschreibt Manfred Welwerth folgendes interessante Erlebnis:

"Ich habe in der Theaterschule von Skåra vor zehn Jahren ein Experiment gemacht. Wir haben uns dort den unbegabtesten Schauspielschüler ausgesucht und ihm gesagt, er solle auf die Bühne gehen und nichts spielen, nichts tun, nichts denken. Das versprach er und hat es in einer erstaunlichen Weise eingehalten. Den anderen Studenten sagten wir, daß wir nach der Mittagspause ein Experiment veranstalten. Wir hätten einen Kollegen gebeten, etwas zu zeigen, und man sollte sagen, was.

Wir ließen nach schlechter alter Theatermanier das Licht ganz langsam verlöschen und den Vorhang millimeterweise aufgehen. Es war eine Stille, als wäre es die Uraufführung eines Shakespeare-Stückes. Und dieser arme Mensch stand auf der Bühne in seiner ganzen Erbärmlichkeit, er hat nicht einmal mit den Augen geblinzelt. Im Zuschauerraum war es fünf Minuten still, dann zehn Minuten. Etwa nach zwölf Minuten — ich habe das protokolliert — fing jemand an zu lachen, und das Gelächter hielt fünf Minuten an. Sie schüttelten sich vor Lachen, und danach trat eine große Traurigkeit ein. Nach 20 Minuten schlössen wir den Vorhang, setzten uns in den Seminarsaal und fragten:

Was habt ihr gesehen?

Anfangs wurde gesagt, die Tragik des Menschen in der Industriegesellschaft. Die Verlorenheit, Entfremdung des einzelnen. Dann aber diese Kühnheit der Verweigerung, die der Kollege großartig gespielt habe. Er sei hellwach, durch nichts zu beeinflussen. Er verweigere sich und entziehe sich somit der Integration durch ein unmenschliches System. Dann aber hätten sie gelacht, weil gezeigt wurde, wie dieser Mann doch mit einer Miene der absoluten Erstarrung die Dinge, die um ihn herum in einer Großstadt geschehen, nicht mehr registriert, sie bereits mit einer Art großen Verweigerung abweist. Das sei irrsinnig stark gewesen, wunderbar gespielt. Zum Schluß hätte sie die Traurigkeit überfallen über die Lage des Menschen in Schweden.

Ich sagte ihnen, daß er gar nichts gespielt habe. Und hier habe man die Grundfunktionen des Theaters selbst erlebt: Theater ist in der Lage, bevor der Schauspieler einen Vorgang zeigt, alles, was auf der Bühne geschieht, als Vorgang zu zeigen, weil diesen der Zuschauer erwartet und auf die Bühne projiziert. Das ist ein gewaltiges Vermögen. Davon hat das absurde Theater praktisch ein Jahrzehnt gelebt, indem es die Tatsache, daß nichts geschieht, als aufregenden Vorgang zeigt...

Zuschaukunst besteht eben darin, daß der Zuschauer zu dem auf der Bühne Gezeigten seine eigenen Gedanken, Bedürfnisse, seine eigenen Erfahrungen immer ins Spiel bringt."

Bemerkungen:

Die Wirkung des Theaters beruht auf der Verabredung, der Schauspieler werde auf der Bühne schon etwas Bedeutsames verkünden oder zeigen; er sei schließlich mit einer bestimmten Absicht auf die Bühne gegangen und so müsse man auch bereit sein, ihm zuzuhören und zuzuschauen. Immerhin, vielleicht könne man daraus etwas lernen, oder habe zumindestens seinen Spaß. Welch' ein Irrtum das ist, beweist allein schon dieses Experiment! ... und es ist nicht nur die "Zuschaukunst", um die es hier geht. Das Experiment zeigt auch, wie leicht doch Menschen zu beeinflussen sind, wenn man ihnen erklärt, was sich Großartiges vor ihren Augen gerade abspielt.

M.Werkwerth, Theater in Disskussion, Berlin 1982, S.235

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