Donnerstag, 2. Oktober 2014

Der künstlerische Schaffensprozeß


Künstlerische Arbeit ist eine besondere Sache. Sie läßt sich nicht vergleichen mit der Arbeit eines Traktoristen, eines Handwerkers oder eines Lehrers. Sie ist anders geartet und funktioniert nach anderen Gesetzen. Hier einmal eine kurze Darstellung, entnommen aus einem Sachwörterbuch für den Literatur-Unterricht (1975):

Malen, Dichten, Komponieren, Theaterspielen, Musizieren usw. sind auf komplizierte Weise verknüpfte geistige und praktische Tätigkeiten. Im künstlerischen Schaffens­prozeß verschmelzen sinnliches Wahr­nehmen und Beobachten, Erinnern und Vorstellen, Denken und Erkennen, Füh1en und Wollen, Werten und Urteilen, schöpferische Phantasie und praktisches Gestal­ten zu einer organischen Einheit. Das geht aus dem Wesen der künstlerischen Aneignung der Wirklichkeit hervor. 

Die Kunst und der Lebensprozeß des Künstlers

Die Kunst gestaltet die Welt in ihrer Bedeutung für den Menschen und den Menschen in seiner Beziehung zur Welt. Daher ist das künstlerische Schaffen untrennbar mit dem gesamten Lebensprozeß des Künstlers verbunden. Seine ganze, vom gesellschaftlichen Leben geprägte Personlichkeit geht in seine künstlerische Arbeit ein und drückt jedem einzelnen Werk ihren Stempel auf. Kenntnisse von den Lebensumständen des Künstlers wie der Epoche, in der er wirkt, verhelfen uns deshalb zum tieferen Verständnis seiner Werke (→ Entstehungsgeschichte). In ihnen spiegelt sich unvermeidlich die Weltanschauung des Künstlers wider, die den gesamten künstlerischen Schaffensprozeß beherrscht. ... 

Wie entsteht ein Kunstwerk?

Im engeren Sinn ist der künstlerische Schaffensprozeß auf ein bestimmtes Werk gerichtet. Er vollzieht sich – wie die menschliche Tätigkeit allgemein – als bewußte Arbeit, die jedoch einem schöpferisch originellen Gedanken, einer wertenden, auch für andere Menschen bedeutsamen Aussage über die Welt untergeordnet ist. Das Kunstwerk entsteht im Prozeß des Reifens einer künstlerischen → Idee und im Ringen um die Gestaltung des → künstlerischen Bildes zur Einheit von künstlerischem Inhalt und künstlerischer Form (→ Inhalt und Form). Das Prinzip dieses Vorgangs kann man, sich etwa in folgender Weise vorstellen: Das Talent des Künstlers bewährt sich zunächst in seiner Fähigkeit, die Umwelt ästhetisch wahrzunehmen. Im äußeren Bild der Erscheinungen des Lebens erfaßt er typische Züge ihres Wesens, die ihn tief bewegen und seine Phantasie zu künstlerischen Ideen anregen. 

 Von der Idee zum fertigen Kunstwerk ...

Als Grundlage für ein Kunstwerk muß die Idee von Anfang an selbst bildhaft sein. In Widerspiegelung der Vielfalt des Lebens produziert seine künstlerische Phantasie sinnlich-konkrete Vorstellungen von Handlungen, Charakteren, Bewegungen, Melodien usw. Solche Vorstellungen des Künstlers sind immer geprägt von seiner bisherigen Lebenserfahrung und seiner Weltanschauung, aber auch von seiner Kunsterfahrung (der Verarbeitung der Tradition, der Beherrschung spezieller künstlerischer Verfahren und Techniken). Das Bedürfnis, seine Gedanken und Gefühle anderen Menschen mitzuteilen, veranlaßt den Künstler, seine künstlerische Idee schöpferisch auszuarbeiten, bildhaft zu Ende zu denken und seine Gestaltungs- und Wirkungsabsichten zu realisieren. Was er ausdrücken will, schwebt ihm dabei verhältnismäßig klar und deutlich vor. In der Phantasie können sich die Vorstellungen ihrem Inhalt nach leicht und ungebunden entfalten, während sie ihrer Form nach blaß und verschwommen bleiben. Das ändert sich mit dem Übergang zur realen Gestaltung. In ihrem Verlauf wird die sinnlich konkret entstehende Form des künstlerischen Bildes zur vollendeten Form seines Inhalts herausgearbeitet. Diese Phase des künstlerischen Schaffensprozesses können wir nachträglich verfolgen, wenn wir z.B. die Skizzen und Studienvarianten zu einem Gemälde mit dessen endgültiger Fassung vergleichen. 

Wladimir Majakowski schrieb
über das Suchen nach der besten Lösung:
„Dichten ist dasselbe wie Radium gewinnen. 
Arbeit ein Jahr. Ausbeute: ein Gramm. 
Man verbraucht, um ein einziges Wort zu ersinnen, 
Tausende Tonnen Schutt oder Schlamm.“ 

Die innere Logik des wirklichen Leben

Im Prozeß der Gestaltung bleiben Inhalt und Form nicht starr, sondern sie entwickeln sich, mitunter abweichend von der ursprünglichen Idee. Ein Schriftsteller z.B. kann unmöglich alle Figuren, Handlungsabläufe und Situationen seines Werkes bis in die Einzelheiten vorausdenken. Verleiht er seinen Charakteren aber erst einmal Gestalt und läßt sie sprechen und handeln, dann beginnt auch die innere Logik der sich entfaltenden Beziehungen zu wirken. Damit entgleitet der Gestaltungsprozeß keineswegs dem bewußten Wollen des Künstlers. In der gründlichen und unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Material setzt sich die Logik der Entwicklung des Werkes letzten Endes als Widerspiegelung der Logik des wirklichen Lebens durch.

Die auch am künstlerischen Schaffensprozeß beteiligte Intuition wirkt grundsätzlich nicht anders als in jeder schöpferischen Tätigkeit. Als plötzlicher Einfall gründet sie sich immer auf reiche Erfahrungen und Erkenntnisse. Maxim Gorki erklärte sie „aus dem Vorrat von Eindrücken, die noch nicht als Gedanken formuliert, die noch nicht vom Bewußtsein geformt sind, die sich noch nicht in Begriffen und Bildern verkörpern“. Die Intuition des Künstlers widerspricht daher keineswegs der Bewußtheit seines Schaffens. Vielmehr erleichtert sie ihm die bewußte Konzentration auf das gestellte Ziel. ...

Quelle: K.-H.Kasper (Hrsg.), Sachwörterbuch für den Literaturuntericht, Volk und Wissen Verlag, S.16-164.

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