Sonntag, 2. Januar 2011

Bewegungsformen


In Ihrem Buch "Sprechende Bewegungen" beschreibt die langjährige Dozentin und Tanzwissenschaftlerin an der Theaterhochschule Leipzig in der DDR, Ilse Loesch (1909-2006) , die Wirkung des Schauspielers auf sein Publikum. Sie ist wie auch Brecht das schon ausführlich charakterisierte auf die Art und Weise zurückzuführen, in der der Schauspieler die Gedanken und Absichten des Autors und des Regisseurs zur Wirkung bringt. Ihr Buch gilt auch heute noch als Standardwerk für die Schauspielerausbildung.

Der schauspielerische Gestus...

"Für die Bühne ist die körperliche Bereitschaft des Schauspielers eine der wesentlichen Grundlagen ihrer künstlerischen Wirkung. Der Schauspieler besitzt nur zwei Mittel, um sich auszudrücken: die Sprache und die Bewegung seines Körpers. Zur körperlichen Bereitschaft gehört auch die Fähigkeit, eine ihm zunächst fremde Individualität anzunehmen. Für den Regisseur bedeutet das, daß er sich deren charakteristische Bewegungsweise vorstellen und sie dem Interpreten nahebringen kann. Dazu muß er mit den Grundlagen des Bewegungsstudiums aus eigener Erfahrung vertraut sein, ohne unbedingt die Beherrschung erreichen zu müssen, die der Schauspieler braucht."

Menschliches Verhalten zeitentsprechend inszeniert

"Bei der Inszenierung von Stücken aus unserer Gegenwart kann man erwarten, daß eine Fülle von Beobachtungen und Erfahrungen aus dem Alltagsleben der Beteiligten zusammengetragen und fruchtbar werden. Über ein Milieu aus einer anderen Zeit, einer anderen Gesellschaftsschicht, einem anderen Land muß man sich Kenntnisse und Eindrücke erst verschaffen. Je weiter die Zeit zurückliegt, desto weniger können wir mit so lebensnahen Dokumenten wie Fotos und Filmen rechnen und sind dann auf Berichte und Lehrbücher, Bildwerke und Musiken, Erzählungen und Dichtungen, Baudenkmäler und andere Zeugnisse angewiesen. Selten geben Stückautoren genaue Anhaltspunkte für solche Verhaltensweisen, die in ihrer Zeit so gewohnt sind, daß Erklärungen überflüssig wären. Gewiß, konventionelle Verhaltensweisen halten sich sehr lange, oft länger, als man ihren Sinn noch versteht. Aber Schritt für Schritt passen sie sich doch veränderten Lebensverhältnissen an oder verschwinden. Beim Theaterspielen tritt aber oft das Umgekehrte ein: Weil man die in der Zeit des Stückes üblichen Umgangsformen nicht kennt oder nicht wichtig nimmt, benutzt man heutige oder einfach vorgestrige, die — zur Bühnenkonvention geworden — für historisches Milieu immer zu passen scheinen. Nur hat das mit realistischer Gestaltung nichts zu tun. Wenn es auch nicht um museale Genauigkeit gehen darf, so bieten doch erst Kenntnis und Anwendung zeitentsprechender Verhaltensformen dem Regisseur wie dem Schauspieler Möglichkeiten einer dem künstlerischen und damit gesellschaftlichen Anliegen entsprechenden Interpretation und Darstellung. Sie können sich aufgrund dieser Kenntnisse die Lebensweise der Menschen in der betreffenden Zeit lebhafter vorstellen, können bestimmte Züge einer Figur oder der Beziehung von Partnern zueinander durch typische Verhaltensweisen besonders herausheben, sie dem heutigen Zuschauer als fremd, überlebt oder noch immer gut bekannt zeigen.

Die Kunst der Nachahmung

"Manche Formen der Haltung, der Bewegungsweise und speziell der Gestik helfen dem Schauspieler — wenn er sie zur Vorbereitung auf die Arbeit an der Rolle nachahmt — auch dabei, sich in das Leben der Spielperson hineinzuversetzen. Je besser Schauspieler und Regisseur in diesen Formen bewandert sind, je mehr sie davon wissen, gesehen und ausprobiert haben, desto treffender können sie sie zur Formung des gesamten Verhaltens verwenden."

Quelle:
Ilse Loesch, Sprechende Bewegung, Henschelverlag Berlin, 1974, S.20.

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