Samstag, 18. September 2010

Denken und Handeln - Der Untertext


Dieses Beispiel zeigt, daß Haltungen und Handlungen auf der Bühne immer geprägt sind von bestimmten Überlegungen und fiktiven Handlungsgedanken. Und es ist keineswegs so, daß die psychologische Einfühlung in einen realen Vorgang bereits zu dem gewünschten Ergebnis, nämlich einer überzeugenden Darbietung, führt. Denn erst die Absichten des Schauspielers machen einen szenischen Vorgang interessant:
Bekanntlich spricht der Schauspieler auf der Bühne heutzutage nicht seinen eigenen, sondern den Text des Autors. Aus diesem Text ist der Handlungsverlauf zu erschließen, welcher weit weniger festgelegt ist als der Text. Der Schauspieler hat allerhand Freiheit für auslegende Ent­scheidungen, also für die Vorgänge und Haltungswechsel. Eine bestimmte Reihe von Fixpunkten aber muß er unbedingt bedienen. Da hat er keine Wahl. Hamlet ersticht Polonius, Ferdinand gibt Gift in das Glas, Faust tötet Valentin. Jede dieser Figuren hat eine mehr oder weniger große Anzahl solcher Fixpunkte unbedingt anzusteuern. Doch selbst bei diesen eindeutig vorgegebenen Entscheidungen liefert der Autor den Untertext nicht mit.

Der Untertext, die Kette der Motive, ist die ureigene An­gelegenheit des Schauspielers. Hat er nicht gelernt, diese Kette wider­sprüchlicher Motivationen konkret herzustellen, sondern sich zum Bei­spiel angewöhnt, die Haltungen seiner Figur in etwa und lediglich äußerlich auszustellen, ist sein Spiel von vornherein flach, dürftig und undifferenziert, so exzellent es sich geben mag. Die hier empfohlene Me­thode will den schöpferischen Darsteller, der glatte Oberflächlichkeit als lähmend empfindet und die rauhe Tiefe der Figur sucht. Der Untertext ist ein wesentliches Mittel, den inneren geistigen Reichtum einer Figur zu erschließen, das Wegfließen ins Gefühl zu blockieren und den geistigen Reichtum der Figur für die zahlreichen Reproduktionen einer Inszenie­rung dann auch stabil zu bewahren.

Noch aber geht es nicht um die stabilisierende Funktion des Unter­textes für die Fixation des Handelns, sondern zunächst einmal darum, das Herstellen von Untertext zu erlernen. Indem der Student eine Situation, obwohl sie nur fiktiv gegeben ist, praktisch handelnd in die Empfindung zu bekommen sucht, entstehen bei ihm die die Aktion steuernden Handlungsgedanken. Also keine passive Hingabe an die Situation ist Voraussetzung für den Untertext, vielmehr grundsätzlich eine vorantreibende Auseinandersetzung, die auf Entscheidung drängt. (...)

Diese Kette von Motiven ist keine Kategorie der Psychologie, sondern eine der Schauspieltheorie. Zwar wird der Wirkungsmechanismus von psychischen Prozessen und physischen Aktionen genutzt, also der im Alltag wirksame funktionelle Zusammenhang von aufkommenden Hand­lungsgedanken und der von ihnen ausgelösten Handlungen, aber ihre natürliche Beschaffenheit genügt nicht für die künstlerische schauspiele­rische Tätigkeit. Nicht nur das Handeln des Schauspielers ist ja fiktiv, sondern auch sein Denken, das dieses Handeln auslöst. Und damit Schauspielen zustande kommt, also etwas Ästhetisches, muß dieses fiktive Denken verwesentlicht, diszipliniert und komprimiert werden. Naturalismen sind unbrauchbar.
Der schauspielerische Vorgang gibt im konkreten einzelnen stets etwas Besonderes aus dem Allgemeinen, er ist als eine ästhetische Kategorie die Widerspiegelung verwesentlichten menschlichen Handelns. Demzufolge ist auch die Kette der Motive, der Untertext, eine verwesentlichte, widersprüchliche Kette von Handlungs­gedanken, in der keine alltäglich-natürlichen Lücken gestattet sind. Indem der Untertext bewußt widersprüchlich strukturiert wird, als ein Wechsel der Einstellungen zur Situation, löst er den Wechsel der Haltungen aus.

Quelle: Gerhard Ebert, Rudolf Penka (Hrsg.) - Schauspielen, Henschelverlag, Berlin (DDR), 1985, S. 85-87
Foto: Wolfgang Heinz als Nathan der Weise

Prof. Dr. Gerhard Ebert, Jahrgang 1930, 1951-55 Studium der Theaterwissen­schaft am Deutschen Theateriristitut in Weimar und an der Theaterhochschule Leipzig, 1955-61 Theaterredakteur beim »Sonntag«, seit 1963 stellvertreten­der Direktor an der Staatlichen Schauspielschule Berlin, seit 1981 1.Prorektor an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin. Dozent für Theorie und Geschichte des Theaters. Theaterkritiker (»Sonntag« 1955—64, »Theater der Zeit« 1977-79, »Junge Welt« 1979-84, »Neues Deutschland« 1984).
Siehe auch - http://www.berliner-schauspielschule.de/ und
http://www.neue-theaterstuecke.de/

Freitag, 17. September 2010

Der Tänzer Manfred Schnelle


Der Tänzer Manfred Schnelle (Kulturempfang in Erfurt 2011)
Es gibt ganz sicher nur wenige Tänzer, die Architektur, Musik und Bewegung so meisterlich in Einklang zu bringen verstehen, wie Manfred Schnelle. Sein Tanz widerspiegelt ein ganz eigenes, tiefes Gefühl für die Wirklichkeit. Unvergeßlich ist mir ein Tanzabend – heute würde man dazu sagen eine "performance" – bei dem Schnelle im sakralen Raum der Johanniskirche Gera zu Orgelmusik tanzte. Fließende, aufsteigende und absinkende, quer den Raum durch-messende Bewegungen, Eleganz und eine schöne, symbolhafte Linienführung waren kennzeichnend für diesen Abend. 

Viele Jahre später dann, am gleichen Ort, trat Anke Gerber mit musikalischer Begleitung von "media nox" auf. Es war eine ganze andere Art der Darbietung: modern, fast ein bißchen frech doch zugleich präzise und quicklebendig... ein Kontrastprogramm.

Der Tänzer und Choreograph Manfred Schnelle versteht sich in der Tradition des Ausdruckstanzes von Marianne Vogelsang. Nach seinem Engagement als Tänzer an der Staatsoper in Dresden unterrichtete er in Leipzig Ausdrucks- und Historischen Tanz, anschließend war er bis 1991 am Volkstheater Rostock als Tänzer und Choreograph tätig.

Seit vielen Jahren ist Manfred Schnelle auch mit den Übungen des Hatha-Yoga vertraut und wurde 1993 in den BDY als Yogalehrer aufgenommen. Wesentliche Impulse in der Meditation erhielt er durch Prof. Peter Heidrich und Pater Enomiya Lassalle. Letzterer lud ihn zur Meditation 1988 nach Japan ein. Eine intensive und langjährige Arbeit als Tänzer, als Lehrer und Choreograph verbindet ihn sowohl mit der evangelischen wie mit der katholischen Kirche.

Für seine künstlerischen Leistungen erhielt Manfred Schnelle das Bundesverdienstkreuz. 

* * * 

(ergänzt am 3. März 2016)  
Zu meiner Überraschung trafen wir uns am 8. Oktober 2001 zum Kulturempfang des katholischen Bischofs Wanke in Erfurt wieder – der Tänzer und der Clown. Ich war als Thüringer Künstler ebenso eingeladen wie Manfred Schnelle. Doch Manfred tanzte ... zu Orgelimprovisationen an der großen Domorgel des Erfurter Doms. Konzentriert und gemessen waren seine Schritte, fast schwebend, und dennoch irgendwie irdisch. Die Gestik seiner Arme und Hände, die Beugungen seines Körpers, zeichneten Linien und Flächen, Aufstrebendes und Fallendes in den Raum. Es war als sähe man eine ganze Partitur kryptischer Figuren vor sich, als gewänne der Orgelklang eine eigene Gestalt. Atemberaubende Stille, nachdem der letzte Ton verklungen war. So still wie er gekommen war, verließ der Tänzer Manfred Schnelle das Podest.

Es war ein Wiedersehen nach langer Zeit. Sehr viel hatte sich in den Jahren geändert, seit wir uns mal in Dresden und später in Rostock – immer wieder trafen, redeten, philosophierten ... über Kunst, über den Tanz, über Pantomime, über Gott und die Welt. Manfred Schnelle war war ein großer, ein einfühlsamer Tänzer und Choreograph, ein sensibler, aber doch auch konsequenter und entschiedener Mensch, ebenso kritisch wie nachdenklich...

Für sein langes Arbeitsleben erhielt Manfred Schnelle vom reichen, kapitalistischen Staat BRD eine beschämend geringe Rente, die kaum zum Überleben reichte. So mußte er bis zu seinem Tod ununterbrochen arbeiten, um leben zu können. Er starb 80jährig am 17. Februar 2016.  Der Dresdner Fotograf Günter Starke hat im Bild festgehalten, was mit Worten kaum zu beschreiben ist, und was den Tänzer Manfred Schnelle unverkennbar charakterisiert. Mit seiner freundlichen Genehmigung hier ist es:


Foto: Günter Starke DGPh

  Manfred Schnelle – für immer unvergessen!